Der “Retail-Apocalypse” trotzen

Donnerstag, 11. Juli 2019

Neu-Isenburg

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Mit dem griffigen Begriff der “Retail-Apocalypse” beschreiben die Amerikaner das Ladensterben in ihrem Land. Auch in Deutschland sorgen Schließungen stationärer Händler regelmäßig für Schlagzeilen. Fast scheint es, als habe der Online-Handel gewonnen. Gäbe es da nicht einen anderen bemerkenswerten Trend.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte die IFH aus Köln die Prognose, dass bis zum Jahr 20.000 Geschäfte in Nordrhein-Westfalen schließen müssten. Aktuell wäre dies jedes fünfte Geschäft. Die Apokalypse für den stationären Handel scheint gekommen. Im vergangenen Jahr erschütterten Schließungen und Insolvenzen, besonders aus dem Modesektor, die Handelswelt in Deutschland und in Übersee. Werden sich die Konsumenten auf Dauer mit dunklen Ladenfronten in den Städten anfreunden müssen?

„Pure Player” drängen auf die Fläche

Ganz so hoffnungslos ist die Situation indes nicht. Denn ehemalige “Pure Player”, also Händler die bisher ihre Produkte ausschließlich über das Internet angeboten haben, zieht es verstärkt auf die Flächen. Das US-Unternehmen Casper ist das Vorbild für zahlreiche Startups, die angetreten sind, ein Produkt online zu verkaufen, von dem bis dato angenommen wurde, dass es sich nicht für den E-Commerce eigne. Die Rede ist von Matratzen. Die Zukunft von Casper liegt indes im Multikanalvertrieb. Denn das Unternehmen kündigte an, bis zu 200 Geschäfte eröffnen zu wollen.

Auch Amazon, der Inbegriff des Online-Vertriebs, überraschte nicht nur mit der Eröffnung seiner ersten stationären Geschäfte, sondern auch durch die Übernahme einer Lebensmittelkette (WholeFoods). Man muss aber gar nicht den Blick nach Übersee richten. Zalando, MyMuesli, Mister Spex oder MyToys sind Namen bekannter Händler, die sich auf den Onlinevertrieb fokussierten und nun in besten Innenstadtlagen eigene Geschäfte eröffnen.

Wer nicht mit der Zeit geht, geht eben mit der Zeit

Wer mit Sachverstand einen Blick auf die spektakulären Ladenschließungen wirft, muss früher oder später an das geflügelte Wort denken, dass das Leben den bestrafe, der zu spät komme. Die Pleite von “Toys’R’Us” in den USA ist ein typisches Beispiel dafür. Riesige Verkaufsflächen, auf denen in langen Gängen das gestapelt wurde, was Kinder begeistern sollte. Allerdings unter einem minimalen Einsatz von Personal.

Mit seiner Riesenauswahl hatte die Kette gegenüber tradierten Spielwarenhändlern und Kaufhäusern einen Vorteil. Die Chancen standen gut, dass der Kunde das finden würde, wonach er sucht. Aber suchen, musste er mehr oder weniger allein.

Suchen, finden, aus dem Regal nehmen und dann zur Kasse gehen  – das erledigt der Kunde von heute bequem auf dem Sofa mit seinem Smartphone. Er braucht dazu nicht in die Vorstadt zu fahren, spart sich die langen Wege auf den großen Verkaufsflächen und bekommt die Ware auch noch preiswert nach Hause geliefert.

Was “Toys’R’Us” bot, konnte Amazon besser. Auch für andere Pleiten, etwa im Modehandel, lassen sich ähnliche Symptome ausmachen. Die Händler, die es traf, ruhten sich viel zu lange auf Auswahl, Preis und Effizienz beim Warenumschlag aus. Nur das genügt heute nicht mehr.

Das Kundenerlebnis rückt in den Vordergrund

Weiß der Kunde bereits genau, was er will, oder kauft ein Produkt für den täglichen Bedarf, dann wird er auch in Zukunft wohl den digitalen Kanal wählen. Aber die Qualität eines Stoffes lässt sich auch mit hochauflösenden Fotos online genauso wenig erleben, wie das Liegegefühl auf einer Matratze. Und in dieser Hinsicht, dem sinnlichen Erleben eines Produkts, spielt der stationäre Handel weiter seine Vorteile aus.

Die ehemaligen Onliner verfolgen mit ihren Geschäften ganz unterschiedliche Strategien:

  • die einen sehen den Laden eher als Showroom,
  • andere als Treffpunkt einer Community
  • oder auch als Ort für Veranstaltungen, um ihre Marke erlebbar zu machen.

Es geht hier nicht darum, möglichst viel Produkte pro Quadratmeter Ladenfläche zu verkaufen, sondern möglichst viel Erlebnis pro Quadratmeter zu bieten. Dazu gehört eine beeindruckende Kundenerfahrung:

  • Wofür steht Mister Spex?
  • Wie fühlt sich Zalando eigentlich real an?
  • Wie sieht es bei Amazon aus?

Das sind Fragen, die Online-Marken offline beantworten. Das ist auch der Ansatz des Konzepts des “New Retail”, das der Alibaba-Konzern in China vorantreibt. Das Unternehmen plant landesweit ein dichtes Netz an Läden zu betreiben, wobei Online und Offline miteinander verschmelzen. Die Trennung der Kanäle gibt es hier nicht, allenfalls vielleicht noch als Kostenstellen im Controlling. Der Kunde nimmt Produkte aus dem Laden mit, oder wählt diese einfach aus, um sie sich nach Hause schicken zu lassen. Ganz nach Lust und Laune.

Es gibt etwas, was die Onliner auszeichnet. Eine Haltung, die sich Händler, die vordem ausschließlich stationär verkauft haben, erst aneignen mussten: die Denkweise vom Kunden aus. Eine durchgängig optimierte Einkaufserfahrung, ohne Reibungspunkte, anzubieten. Das ist der viel beschworene Servicegedanke, den die Kunden immer seltener in den Geschäften vor Ort gespürt haben, und sich deswegen dem Onlinekauf zuwandten. Service, den stationäre Händler auch in ihrer Kassenzone bieten sollten, beispielsweise durch Bargelddienstleistungen direkt am POS. Beim Einkauf auch gleich Bargeld abheben, das kann die Attraktivität eines Standorts genauso erhöhen, wie regelmäßige Veranstaltungen und kuratierte Produktzusammenstellungen.

Ergreift der Handel seine Chancen und stellt Erlebnis und den Kunden in den Mittelpunkt, dann wird die Retail-Apokalypse wohl doch noch abgesagt.

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